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AutorenbildBarbara Bierach

Relativitätstheorie auf Irisch


Zeit ist in Irland relativ. Damit meine ich nicht die Erfahrung, dass drei Minuten extrem lang sind, wenn man darauf wartet, dass der Zahnarzt mit dem Bohren aufhört und extrem kurz, wenn man mal schnell ans Telefon geht, während das Steak schon in der Pfanne brutzelt. Diese Erfahrungen – und der Renovierungsaufwand in der Küche – sind universal und überall gleich.


Gemeint ist, dass in Irland zwei Zeitsysteme gleichzeitig zu existieren scheinen. Ich nenne sie die offizielle und die irische Zeit.


Die offizielle Zeit wird durchaus ernst genommen. Ich habe zum Beispiel in drei Jahren Irland nie erlebt, dass ein Zug unpünktlich gewesen wäre. Und Ryanair mag seine Schwächen haben, aber wenn Europas größte Airline überhaupt fliegt (weil sie die Flüge nicht zusammen gestrichen und genug Personal hat), dann pünktlich.


Wenn ich das bei den Iren lobe, werde ich mit Unverständnis angesehen: „Aber du bist doch deutsch. Für dich ist das doch normal!“ Meine Freundin Daphne zum Beispiel parkt lieber 15 Minuten vor unserer Verabredung in einem Versteck um die Ecke und wartet, als zu spät zu einer Verabredung mit „der Deutschen“ zu erscheinen. Würden Daphne und die anderen Iren mit der Deutschen Bahn reisen (oder mit der Lufthansa), würden sie die deutschen Gebräuche anders sehen und entspannt dann erscheinen, wann es ihnen passt.


Und dann gibt es die irische Zeit. Die ist liquide und so veränderlich wie das Wetter. Bei einem Telefonat mit einem Handwerker, einem „tradie“ (von tradesman) zum Beispiel manifestiert sich diese Parallelzeit ungefähr so:

Ich: When can I expect you?

Tradie: The day after tomorrow.

Ich: Wednesday then, right?

Tradie: Wednesday? No! I meant Thursday.

Ich: Okay. Thursday it is. What time can I expect you?

Tradie: In the morning.

Ich: Does that mean 9am or rather 11am?

Tradie: Arrr, first thing in the morning.


Jede weitere Nachfrage ist so unergiebig wie ein Euter an einem Bullen. Es bleibt bei „first thing.“

Nach langen Jahren in Australien stehe ich also am Donnerstag um 7.00 Uhr frisch gewaschen und gebügelt parat, um dem Herrn Handwerker den Tee zu kochen, ohne den hier nichts geht. Denn kündigt ein Tradie in Sydney an, er werde „first thing“ erscheinen, klingelt es im Morgengrauen an der Tür.


Hier in Irland jedoch kann ich um sieben meinen Tee alleine trinken. Genauso wie um acht oder um neun. Wenn ich Glück habe, erscheinen die Herrschaften um halb zehn. Oder auch erst am Freitag, um 14 Uhr.


„First thing“ bedeutet in Irland soviel wie das „maňana, maňana“ der Spanier. Oder das „NT“ der Australier, was im tropischen Northern Territory so viel heißt wie „not today“ und „not tomorrow.“ Wahlweise auch „not Tuesdays and not Thursdays either.“ Deswegen sind wir hier immer die ersten, wenn wir um 19 Uhr zum Essen eingeladen sind und um 19.10 Uhr an der Tür klingeln. Die Gastgeberin steht dann mit hektischen Flecken im Gesicht vor dem Herd und ihr Gatte hockt im Unterhemd und ungeduscht vor dem Fernseher und guckt GAA – gälischen Fußball. Merke: Zu früh kommen, ist manchmal unhöflicher als zu spät! Alle anderen Gäste erscheinen so ab 19.45 Uhr.


Zeit ist relativ, wie alles andere auch in Irland. Jedes dritte Dorf rühmt sich des „ältesten Pubs“ im Land, auch wenn nur die Toiletten (und in besonders traurigen Fällen das Öl in der Fritteuse) die ältesten weit und breit sind. Die St. Paddys Parade am Nationalfeiertag fängt um 15.30 Uhr an – was alles bedeuten kann von 15.30 bis 17.00 Uhr, ungefähr. Und wenn der Wirt sagt, er mache sein Pub „first thing“ auf, meint er in der Regel um acht Uhr abends. Aufregen nutzt nichts, da macht man sich nur lächerlich. Im Zweifelsfall Strandspaziergang machen zur Beruhigung. Denn auf Ebbe und Flut ist Verlass – die wechseln sich alle sechs Stunden ab. Sogar in Irland.

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