Je weniger Küste eine Gegend hat, desto begeisterter sind ihre Einwohner vom Meer. Das scheint die Faustregel zu sein, jedenfalls höre ich von vielen deutschen oder österreichischen Binnenländlern: „Am Meer leben! Wie toll. Das war immer schon mein Traum.“
Die Iren ziehen bei solchen Sätzen ironisch eine Braue hoch und halten sich den Hut fest: Es stürmt für gewöhnlich vom Atlantik her. Wenn es gerade nicht schüttet. Oder beides. Dann kommt das Wasser waagrecht. Am Wochenende stand daher in der Zeitung folgender Sparvorschlag: Wir schicken den kompletten Wetterdienst nach Hause. Motto: „Leute, wir sind in Irland. Irgendwo regnet es immer.“ Schuld daran ist natürlich: der Nordatlantik und die Feuchtigkeit, die er mit sich bringt.
In Irland gilt daher der Umkehrschluss: Das Meer ist für die Insulaner etwas, das man zu allem möglichen nutzt, nur nicht zum Spaß. Man geht fischen, hängt Hummertöpfe aus, gräbt im Sand nach Muscheln. Sammelt Algen, um sie als Badezusatz an die Touristen zu verkaufen. Oder um sie zu trocknen und Snacks draus zu machen. Dann wird das Zeug Carrageen genannt. Manche machen sogar Pudding aus Tang oder verbacken ihn zu Brot. Viele Iren können übrigens nicht schwimmen, besonders nicht die Seeleute. So zum Beispiel Tom, unser Briefträger. Im Nebenjob fährt er zum Fischen raus und bringt mir im Sommer zusammen mit der Post die köstlichsten Krabbenscheren. Zwei Kilo für 10 Euro, Tom lässt sich nicht lumpen. Schwimmen kann er nicht und so neumodischer Kram wie Schwimmwesten stört beim Arbeiten. Toms lakonischer Kommentar zu meinem Vortrag über Arbeitsschutz: „Musst halt aufpassen.“ Gefolgt von der Frage: „Willste das Boot kaufen?“
So sind übrigens auch die bei den Touristen so beliebten Aran Sweater aus dicker irischer Schafwolle entstanden: Jede Fischerfamilie auf den Aran Islands hat ihr eigenes Muster. Wenn es beim Fischen einen Unfall gab und die Leiche wurde nach Tagen irgendwo angeschwemmt, konnte man sie an Hand des Pullovermusters identifizieren. Wer keinen Respekt vor dem Wasser hat, ist einfach ein Eeejit, irisch für Idiot.
Ich stamme vom Bodensee, wo schon bei Windstärke drei die Sturmwarnung tut, als ginge gleich die Welt unter. Da lacht der Ire. Und zu Recht. Ich finde den Wind hier an der Küste belebend. Liebe die einsamen Strände und meine Strandspaziergänge, auch bei Regen. Und Toms frische Krabbenscheren. Wenn die See so richtig donnert, wird es in mir ganz ruhig. Das Meer ändert sich nicht. Es ist der Atem der Welt, Ebbe und Flut, rein und raus. In alle Ewigkeit.
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