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  • AutorenbildBarbara Bierach

Zeit ist elastisch

Aktualisiert: 11. Juni 2018



Der junge Mann lehnt entspannt im Türrahmen der Aran Island Ferry und guckt den Passagieren auf dem Achterdeck beim Grünwerden zu. Die Sonne scheint, der Himmel ist tiefblau, aber es bläst schon seit Tagen und die Welle ist entsprechend eindrucksvoll. Was im Hafen von Rossaveal noch wirkte wie ein perfekter Tag für eine Fährenfahrt, entpuppt sich auf halben Weg zur größten der drei Aran Islands für so manch einen Touristenmagen als Herausforderung. Der junge Mann und ich gehen in Deckung, wissen wir doch aus Erfahrung, dass die allermeisten Landratten erst noch lernen müssen, dass man sich an Bord besser nicht gegen den Wind erbricht.


Das Schiff bockt wie ein Jahrmarkts-Fahrgeschäft auf dem Oktoberfest. Ein junges Mädchen findet das lustig und hüpft an der Reling auf und ab. Als würde die Zeit kontraktieren, steht erstaunlich schnell der junge Mann neben ihr und knurrt: “Keep your feet on the ground! Don't you go overboard!“ Wiegenden Schrittes elegant die Wellenbewegung ausgleichend, nimmt er seine alte Stellung im Türrahmen wieder ein.

Der Kerl ist Profi, keine Frage. Und hat überhaupt keine Lust, unbeaufsichtigte Kinder aus der See zu fischen. So was bringt den Fährenfahrplan durcheinander. Wir grinsen uns an und ich frage: “You do this for a living?“ “Yep“, sagt er. „Swapped fishing for the ferries about 11 years ago.“ So jung wie er aussieht, muss er mit 13 oder so mit dem Fischen angefangen haben. “It's an easier life, I suppose”, sage ich. “And mosts tourists smell better than fish.” Dann deutet er mit dem Kinn auf einen Ami, der inzwischen begriffen hat, dass es sich mit dem Wind komfortabler erbricht. “At least at the beginning of the trip.”

Unsere Wahrnehmung und die Realität sind nicht dasselbe. Sonnenschein bedeutet nicht, dass das Meer friedlich ist. Wind, der dir ins Gesicht bläst, ist nicht immer erfrischend. Ein junger Mann, der aussieht, als gehöre er noch in die Schule, mag alt genug sein, um schon mehr als eine Dekade lang auf dem Meer gearbeitet zu haben.

Und Zeit ist nicht überall gleich, sondern vielmehr elastisch. Sie vergeht am Meer langsamer als in den Bergen. Das lässt sich heute mit Präzisionsuhren messen: Schon ein paar Meter Höhenunterschied machen sich bemerkbar. Nicht nur die Zeit verlangsamt sich am Meer, alle Prozesse tun das. Zeit ist tatsächlich elastisch: Wer auf Meereshöhe bleibt, lebt langsamer und altert auch langsamer als einer, der in Höhenlagen herumturnt.

Was Einstein schon vor 100 Jahren wusste, lässt sich heute mit Technologie beweisen, wie der Physiker Carlo Rovelli in seinem lesenswerten Buch “The Order of Time” darlegt. Wer jedoch keine Lust hat auf Instrumente und Labors, kann auch ein Boot auf die Aran Islands nehmen. Hier bestimmt das Meer so sehr das Leben, dass die Zeit gänzlich stehen geblieben zu sein scheint. Seit 3000 Jahren steht auf den Klippen das Fort Dun Aengus, die Menschen sprechen Gälisch wie von Alters her und im Pub dauert es noch ein wenig länger als auf dem Festland, bis das Guinness endlich im Glas ist. Noch immer schichten die Bauern Steine zu Mauern auf, um ihr Vieh vor dem Wind zu schützen, der bläst wie eh und je. Auf Inish Mor gibt einen Supermarkt, einen Bankautomaten, ein Geschäft für die typischen Wollpullis der Inseln, zwei Pubs, zwei Hotels und ein paar B&Bs. Die beiden kleineren Nachbarinseln können nicht mit soviel Service dienen. Nur Zeit und Anti-Aging gibt’s hier zusammen mit jodhaltiger Luft im Übermaß.



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